W. Bergmann u.a. (Hrsg.): Antisemitische Geschichtsbilder

Titel
Antisemitische Geschichtsbilder.


Herausgeber
Bergmann, Werner; Sieg, Ulrich
Reihe
Antisemitismus: Geschichte und Strukturen 5
Erschienen
Anzahl Seiten
264 S.
Preis
€ 24,95
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Wiebke Wiede, SFB 600, Universität Trier

Im Nachklang zum Konstanzer Historikertag von 2006 befasst sich dieser 2009 erschienene Sammelband mit ‚Geschichtsbildern‘ der speziellen Art. „Antisemitische Geschichtsbilder“ lautet der Titel der von Werner Bergmann und Ulrich Sieg, zwei ausgewiesenen Experten auf dem Feld der Antisemitismusforschung, herausgegebenen Aufsatzsammlung. Rund die Hälfte der elf Artikel geht auf eine Tagung zurück, die im November 2006 vom Zentrum für Antisemitismusforschung in Zusammenarbeit mit der Universität Marburg veranstaltet wurde.1

Zu Beginn weist der Beitrag Andrea Hopps auf die „Medialisierung des antisemitischen Stereotyps“ (S. 23) hin. Rahmenbedingung einer neuartigen und expandierenden Antisemitismus- und Geschichtsproduktion des ausgehenden 19. Jahrhunderts sei der zeitgleich expandierende Buch-, Zeitungs- und Zeitschriftenmarkt gewesen. In zuvor nicht gekannter Masse und Geschwindigkeit seien antisemitische Geschichtswerke und Geschichtswerke mit antisemitischem Einschlag verbreitet und rezipiert worden. Neuartige Medien, wie Karikaturen, Flugschriften und Bildpostkarten, beeinflussten die Form der antisemitischen ‚message‘, ihre Darstellung und ihre Verbreitung.

Michael Dreyers Artikel befasst sich mit Constantin Frantz, dem Verfasser der 1844 erstmals publizierten 44-seitigen Broschüre ‚Ahasverus oder die Judenfrage‘. Zu diesem Zeitpunkt im preußischen Staatsdienst tätig, bewegt sich der Pastorensohn Frantz auf Linie des christlichen Judenhasses und predigt die Einheit von deutscher Staatsangehörigkeit und christlichem Bekenntnis. Zwangsläufig wird damit Angehörigen der jüdischen Konfession das Bürgerrecht abgesprochen.

Werner Bergmann steuert einen Artikel zu Wilhelm Marr bei, der als Schöpfer des Begriffs ‚Antisemitismus‘ gilt. Seine Schrift ‚Der Sieg des Judenthums über das Germanenthum‘ wurde 1879 im Berner Costenoble Verlag produziert und erreichte binnen kurzer Zeit elf Auflagen mit einer Gesamtauflagenhöhe von über 20.000 Stück. Marr dienen historische Argumentationsstrategien als Mittel zum Zweck. Nachzuweisen sei die kulturhistorische „Thatsache“, dass der Untergang der deutschen Nation aufgrund des seit 1848 stetig anwachsenden jüdischen Einflusses unmittelbar bevorstehe.

Ulrich Wyrwa stößt in das thematische Zentrum des Sammelbandes vor. Mit Heinrich von Treitschke und seiner ‚Deutschen Geschichte‘ (1879-1894) beleuchtet er einen der wichtigsten Mediatoren antisemitischer Geschichtsbilder der Kaiserzeit. Für Wyrwa sind Treitschkes Invektiven in die antisemitischen Debatten der Jahre 1879/80 auslösendes Moment dafür, dass antisemitische Deutungsmuster in Treitschkes eigenes historisches opus magnum Eingang finden. Ist der erste Band der ‚Deutschen Geschichte‘ (1879) frei von antisemitischen Übergriffen, radikalisieren sich diese in den folgenden Bänden. Treitschkes Geschichtswerk ist kein per se durchgängig antisemitisches Werk, und sein Antisemitismus ist gleichsam nachträglich in sein politisch-wissenschaftliches Programm preußischer Hegemonialmacht implementiert. Aber gerade diese Imagination eines ethnisch homogenen preußischen Machtstaates schuf exklusive Ausschlusszwänge für jegliche Minderheiten.

Ulrich Sieg befasst sich mit einer weiteren Heiligenfigur der völkischen Antisemiten. Paul de Lagarde, seit 1869 Göttinger Ordinarius für Orientalistik, veröffentlichte 1878 in der Göttinger Dieterich'schen Verlagsbuchhandlung erstmals die ‚Deutschen Schriften‘. Sieg stellt die überzeugende These auf, Lagarde hätte in dieser Schrift den „Theologiebedarf“ (Friedrich Wilhelm Graf, hier: S. 110) des neuen Nationalismus mit der Nüchternheit wissenschaftlicher Argumentationsstrategien synthetisieren können. Lagardes kulturell begründete, wenngleich rassistisch radikale Utopie einer „nationalen Religion“ ist mit religiöser Toleranz und Pluralität nicht in Einklang zu bringen. Juden haben keinen Platz im sakralen Raum der Nation.

Johannes Heinßen stellt Julius Langbehn und sein Werk ‚Rembrandt als Erzieher‘ (1890) vor. Die kulturkritische Zeitdiagnose, die der freischaffende Publizist und Lebensreformer Langbehn darin vornimmt, wird in den rasch veröffentlichten Neuauflagen des Buches – bis 1893 erscheinen 43 Auflagen in 60.000 Exemplaren – nach und nach antisemitisch aufgeladen. Langbehn pflegt einen eklektischen Stil, der bildungsbürgerlich gängige Romantikvorstellungen neu assoziiert und antisemitische Polemiken problemlos integriert.

In seinen antisemitischen Topoi bediente sich Langbehn unter anderem bei Theodor Fritsch, den Elisabeth Albanis zum Thema ihres Beitrags macht. Dieser „Altmeister des Antisemitismus“ (Serge Tabary), umtriebiger Verleger und Verfasser des ‚Antisemiten-Katechismus‘ (Erstauflage 1887, seit 1907 unter dem Titel ‚Handbuch der Judenfrage‘), war einer der großen antisemitischen Netzwerker des Kaiserreichs. Ein polemischer und eliminatorischer Antisemitismus war Grundlage seines Geschichtsbildes, das geprägt war von der diametralen Dichotomie zwischen „Juden“ und „Ariern“.

Anja Lobenstein-Reichmann nimmt die rassentheoretische Geschichtsphilosophie Houston Stewart Chamberlains in den Blick. Sein Hauptwerk, die ‚Grundlagen des 19. Jahrhunderts‘, erschien 1899 bei F. Bruckmann in der ersten Auflage und avancierte zu einer Lieblingslektüre des wilhelminischen Bildungsbürgertums. Bezugnehmend auf Gobineau stilisiert Chamberlain die Rasse zu einem „geschichtsleitenden Phänomen“ (S. 148) und die Weltgeschichte zu einem beständigen Rassenkampf. Antisemitische Qualität gewinnt seine gegenwartsabhängige Geschichtsinterpretation mit der religiös-mystischen Verklärung des kulturschaffenden „Ariers“, dessen Gegenpart der inferiore „Jude“ übernehmen muss.

Rainer Hering beschäftigt sich mit populären Geschichtsdarstellungen von Heinrich Claß, der 1908 bis 1939 dem Alldeutschen Verband vorstand. 1909 veröffentlichte der Schüler Treitschkes unter dem Pseudonym Einhart die ‚Deutsche Geschichte‘. Geschichtsschreibung dient Claß lediglich als Aufhänger seiner aggressiv-imperialistischen Lebensraumpolitik. In der elften Auflage von 1922 zitiert Claß traditionelle antisemitische Stereotype der Zersetzung, indem er „Reichsfeinde“ innerhalb des Deutschen Reiches – als solche identifiziert er Polen und Juden – für die Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg verantwortlich macht.

Miloslav Szábo wendet sich in seinem Beitrag Alfred Rosenberg und dem ‚Mythus des 20. Jahrhunderts‘ (1930) zu. Szábo betont, dass Rosenberg Chamberlains antisemitische Geschichtsauffassung mittels eines „rassistischen und sexistischen Orientalismus“ (S. 229) weiter radikalisiert und zeitgenössisch gängige orientalistische Diskriminierungsmuster auf das antike Judentum anwendet. Auf dieser Basis entwickelt Rosenberg seine Forderung eines „nordischen“ Christentums, frei von „orientalischen“ Verfremdungen, die er vor allem im Katholizismus erkennt.

Den Band beschließt Michaela Haibls Beitrag zu antisemitischen Visiotypen. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts habe sich, parallel zur Konjunktur antisemitischer Texte, ein „reichhaltiges antisemitisches Bildrepertoire“ (S. 234) herausgebildet. In Folge der zunehmenden Durchdringung der zwei Ebenen von antisemitischen Texten und antisemitischen Bildern seien antisemitische Visiotype, visuell funktionierende Stereotype, entstanden. So einleuchtend diese Beobachtung Haibls ist, bleibt unklar, ob und in welcher Weise diese Visiotype mit Geschichtsdarstellungen verschränkt waren, und damit nicht nur „antisemitische Bilder“, sondern auch „antisemitische Geschichtsbilder“ im Wortsinn transportierten.

Kritisch sei angemerkt, dass die Periodisierung der „antisemitischen Geschichtsbilder“ insgesamt präziser hätte erfolgen können. Abgesehen von Rosenbergs ‚Mythus‘ beschäftigen sich alle Autoren mit Bestsellern des Kaiserreichs, die „zum Teil siebenstellige Auflagenzahlen“ (S. 8) erreicht haben. Da der Sammelband den Anspruch erhebt, „das öffentliche Geschichtsverständnis der Zeit zwischen Bismarck und Hitler“ (S. 20) zu behandeln, kann das missverständliche Bild einer geradlinigen Erfolgsgeschichte antisemitischer, historischer Bestseller zwischen 1870 und 1930 entstehen. Angesichts der ökonomischen Krisenhaftigkeit des Buch- und Zeitschriftenmarkts der Weimarer Republik besteht aber kein Grund anzunehmen, dass sich antisemitische Klassiker in den Jahren 1919 bis 1932 besser verkauft hätten als alle anderen Bücher. Chamberlains ‚Grundlagen des 19. Jahrhunderts‘ erschienen beispielsweise bis 1922 in vierzehn Auflagen, eingeschlossen drei Volksausgaben.2 Erst 1932 wurde das Werk als preisgünstige Volksausgabe in der fünfzehnten Auflage – die einzige Auflage der Weimarer Zeit außerhalb der Inflationsjahre – neu herausgegeben. Ebenso erlebten die auf den ersten Blick beeindruckenden sechs Neuausgaben der ‚Deutschen Schriften‘ von Paul de Lagarde, die im Zeitraum 1919 bis 1932 in Verlagen unterschiedlichster Couleur (beispielsweise Reclam oder Julius Friedrich Lehmanns) produziert wurden, in der Weimarer Zeit nur ihre Erstauflage. Die Lagarde-Anthologie des Eugen Diederichs Verlags (Erstauflage 1913) wurde in der Weimarer Zeit postinflationär nur einmal, in der fünften Auflage von 1925, veröffentlicht. Auch in ‚rein‘ ideengeschichtlicher Lesart sind Zweifel an einer vermeintlichen Kontinuität antisemitischer Geschichtsbilder „von Bismarck zu Hitler“ angebracht. Johannes Heinßen weist als einziger Autor auf die Krise des Historismus seit der Jahrhundertwende hin. Es wäre doch interessant zu beobachten gewesen, ob der Niedergang des historistischen Paradigmas auf populäre Geschichtsbilder – die antisemitischen eingeschlossen – Auswirkungen hatte, und wenn ja, welche dies waren.

Diese Kritik soll die Verdienste der Aufsatzsammlung aber keineswegs schmälern. Sie zeigt nur, dass der Band das Potential hat, weitere Fragen anzuregen. Indem zwei Erfindungen des 19. Jahrhunderts, der moderne Antisemitismus und die populäre Geschichtsschreibung, miteinander verknüpft werden, betritt der Band ein aus dezidiert geschichtswissenschaftlicher Sicht weitgehend unbeackertes Feld. Weitere Studien über die breiten kultur- und wissenschaftshistorischen Kontexte antisemitischer Geschichtsbilder, auch abseits antisemitischer ‚Höhenkammliteratur‘, wären wünschenswert.

Anmerkungen:
1 Vgl. Tagungsbericht Antisemitische Geschichtsbilder. 03.11.2006, Berlin, in: H-Soz-u-Kult, 28.11.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=1377>.
2 Auflagenziffern nach den jeweiligen Titeleinträgen in: Gesamtverzeichnis des deutschsprachigen Schrifttums 1911–1965, München 1976–81.